- Ruusbroec und Devotio moderna
- Ruusbroec und Devotio modernaDie Frömmigkeitsbewegungen der »Devotio moderna«, die »neue Frömmigkeit« in Flandern und den Niederlanden, gehört zu den zahlreichen Reformversuchen in der katholischen Kirche vor der Reformation. Ein wohlhabender und gelehrter Magister, Geert Groote, bekehrte sich um 1374 nach sehr freizügigen Jahren und ließ, der »Schwarzen Kunst« verdächtigt, seine Zauberbücher öffentlich verbrennen. Zusammen mit dem ebenso universitär gebildeten Florens Radewijnsgründete er in Deventer das Haus der Fraterherren oder Brüder vom gemeinsamen Leben, dem bald eines für Schwestern sowie die Klerikerkongregation der Augustiner-Chorherren von Windesheim bei Zwollefolgten. Diese Gemeinschaften verstanden sich als Abbild der urkirchlichen Apostelgemeinde, von deren Position aus Grooteunsittliche und verweltlichte Geistliche heftig kritisierte, woraufhin er seine Predigterlaubnis verlor. Er starb an der Pest, ehe es zu einem entscheidenden Zusammenstoß mit der Amtskirche kam.Seine mit Sinn für das Praktikable formulierten Ideale überlebten Groote. Sie hießen freiwillige Armut und eine »Vita ambidextera«, ein »Leben des Sowohl-als-auch«: Gott schauen und dem Nächsten helfen. Innerlichkeit, Gelassenheit, frohe und demütige Arbeit sollten das Dasein der Devoten bestimmen. Ihre nicht nach Spektakulärem suchende Mystik konnte sich weit im Volk verbreiten, da sie, ohne an Gefühlswärme zu verlieren, weder die ekstatische Gottesvereinigung noch die philosophische Vergottung betonten. Sie leiteten vielmehr dazu an, Gott individuell in der eigenen Seele zu finden. Als »Königsweg« galt die Betrachtung des Lebens Jesu. Dies schloss aktive karitative und seelsorgerische Tätigkeit, Zuspruch und Vorbildfunktion keineswegs aus. Freilich führten eine bisweilen extreme Betonung von Demut und Gehorsam, Gewissenserforschung, Sündenzerknirschung und Selbstkontrolle auch zu Skrupulosität, Angst, Todes- und Teufelsfurcht sowie zu einer verstärkten Kritik an denjenigen. Christen, die den Idealen der Devoten nicht entsprachen.Unter den Erbauungsbüchern, die im Umkreis der Devotio entstanden, wurde die »Imitatio Christi« (»Nachfolge Christi«) des Thomas von Kempen, die vermutlich auf einem gleichnamigen Werk Grootes beruht, weltberühmt. Sie gilt als das nach der Bibel am häufigsten gedruckte Buch des Christentums. Thomas lebte in der Gemeinschaft Radewijns, dann im Augustiner-Chorherrenstift Agnetenberg bei Zwolle. Sein reiches Werk umfasst Biographien der wichtigsten Modernen Devoten, Meditationen, Gebete, Predigten, Lieder und Briefe. Die »Imitatio« behandelt klassische Etappen des Aufstiegs zu Gott: Zerknirschung, Umkehr, Läuterung und Vereinigung, aber das Ziel ist nicht die Verschmelzung in der mystischen Ekstase, sondern die jedem Gläubigen zugängliche Vereinigung mit Christus im Sakrament. Thomas predigte mit zahlreichen Bibelzitaten die Vorbereitung auf eine solche zwar gefühlhafte und intensive Gottesbegegnung, bei der aber klassische Elemente der Mystik in den allgemein erreichbaren Kontext der Abendmahlsfeier umfunktioniert sind: »Du in mir und ich in Dir - so lass uns beide vereint bleiben immerdar!« - aber »durch die heilige Kommunion und die häufige Feier der heiligen Messe«. Die Frömmigkeit der Imitatio ist nüchtern-schlicht, sie lehnt die äußere Welt, auch Wallfahrten und Reliquienverehrung ab; ethisches Wohlverhalten und Abgeschiedenheit sollen ins innere Reich führen.Groote hat unter anderem das Hauptwerk des in seiner Zeit bedeutendsten religiösen Schriftstellers Flanderns aus der Volkssprache ins Lateinische übersetzt, »Die Zierde der geistlichen Hochzeit« des Brüsseler Priesters Jan van Ruusbroec. Dessen nicht immer leicht lesbare Traktate prägten die Spiritualität der Modernen Devoten mit. Seine Lehre gleicht in manchem der Meister Eckharts, den er allerdings scharf ablehnte, waren einige von EckhartsSätzen doch vom Papst verurteilt worden. Ruusbroec konnte nicht ahnen, dass er nach seinem Tode selbst Ziel übermäßig orthodoxer Angriffe werden sollte.Im »Seelenfunken« und in der »obersten Vernunft« wurzelt nach Ruusbroec eine natürliche Neigung des Menschen zu Gott. Deren Erfüllung muss aber nicht nur im schauenden, sondern auch im tätigen Leben durch eine Ausgewogenheit zwischen Ruhe und Wirken, von Ein- und Auskehr gesucht werden. Das gemeinsame Leben, solidarisch mit Gott und dem Nächsten, ist die stärkste Chiffre des Autors für Vollkommenheit. Die von wenigen erreichte Gipfelerfahrung umschreibt Ruusbroec voller Faszination: In liebender Umarmung »vollzieht sich ein genießendes Übersteigen und ein fließendes Eintauchen in die wesentliche Nacktheit, da alle göttlichen Namen, alle Weisen und alle lebendigen Ideen, die im Spiegel der göttlichen Wahrheit abgebildet sind, in einer einfältigen Namenslosigkeit und Unweise außerhalb jeder verstandesmäßigen Erkenntnis zusammenfallen.«Doch in solche Tiefen mochten die meisten Devoten dem Meister nicht folgen. Die Leitung der Windesheimer Kongregation stand erlebnismystischen Erfahrungen sogar so skeptisch gegenüber, dass sie 1455 bei Kerkerstrafe verfügte: »Keine Nonne oder Schwester, welchen Ranges auch immer, darf Bücher schreiben, die philosophische Lehren oder Offenbarungen enthalten. .. Wer solche sieht oder davon hört, muss sie [die Bücher] sogleich ins Feuer werfen lassen.«Offenbar erfüllte die schlichte, innerlich religiöse Einstellung der Devotio moderna viele Bedürfnisse. Ihre Häuser vermehrten sich in Nord- und Ostdeutschland bis um die Mitte des 15. Jahrhunderts auf bald hundert. Ihr klösterlich organisiertes Leben wechselte zwischen Gebet, Meditation und Arbeit (speziell Buchherstellung und Unterricht). Die Verbreitung der Gemeinschaften in Territorien, die allesamt die Reformation annahmen, führte im 16. Jahrhundert zum fast vollständigen Erlöschen der Bewegung. Die letzte Niederlassung in Frenswegen wurde 1809 aufgelöst. Doch erfolgte im 20. Jahrhundert sowohl eine katholische als auch eine evangelisch-lutherische Restauration, freilich in bescheidenem Umfang.Prof. Dr. Peter DinzelbacherFlasch, Kurt: Einführung in die Philosophie des Mittelalters. Darmstadt 31994.Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung, herausgegeben von Rüdiger Bubner. Band 3: Renaissance und frühe Neuzeit, herausgegeben von Stephan Otto. Neudruck Stuttgart 1994.
Universal-Lexikon. 2012.